Kabul (dpa) – Nach der Übernahme Kabuls durch die militant-islamistischen Taliban haben sich am Flughafen der afghanischen Hauptstadt dramatische Szenen abgespielt.
Verzweifelte Menschen versuchten, auf Flüge zu kommen, wie in sozialen Medien geteilte Videos und Bilder zeigten. Sie kletterten auf ihrer Flucht vor den Taliban unter anderem über Drehleitern, um in ein Flugzeug zu gelangen. Auch Afghanen ohne Reisepässe versuchten ihr Glück, berichteten Bewohner am Montag.
Für Entsetzen sorgten in Kabul insbesondere Aufnahmen, die zeigen sollen, wie Menschen aus großer Höhe aus einem Militärflugzeug fallen. Es wurde gemutmaßt, dass sie sich im Fahrwerk der Maschine versteckt hatten oder sich einfach am Flieger festhielten. Diese Angaben konnten bislang nicht unabhängig verifiziert werden.
Verzweifelte klammern sich an an rollendes Flugzeug
Ein Mann, der in der Nähe des Flughafens lebt, schrieb der Deutschen Presse-Agentur auf Facebook, eine dieser Personen sei auf ein benachbartes Dach gestürzt. Es habe gekracht, als habe es eine Explosion gegeben. Er teilte Bilder und Videos der Leiche und schrieb, drei weitere Männer seien in der Nachbarschaft gefunden worden. Auf einem anderen Video soll zu sehen sein, wie Dutzende Menschen am Flughafen Kabul neben einer rollenden US-Militärmaschine laufen. Einige klettern auf das Flugzeug und klammern sich fest.
Die Taliban hatten in den vergangenen Wochen nach dem Abzug der ausländischen Truppen, darunter der Bundeswehr, in rasantem Tempo praktisch alle Provinzhauptstädte eingenommen – viele kampflos. Am Sonntag rückten sie auch in Kabul ein. Kämpfe gab es keine.
Hunderte oder vielleicht auch Tausende Menschen hatten sich seit Sonntag zum Flughafen aufgemacht, um aus dem Land zu kommen. Die deutsche Botschaft warnte jedoch davor, sich ohne Aufforderung dorthin zu begeben. Dies könne gefährlich sein.
Es gab zudem am Sonntag erste noch unbestätigte Berichte, Menschen seien am Flughafen zu Tode gekommen. Davor hatte es geheißen, US-Soldaten, die den Flughafen absichern, gäben Warnschüsse ab.
Taliban besetzen in Kabul Polizeistationen
Die Lage in der Stadt Kabul selbst war am Montag angespannt, aber zunächst ruhig. Die Taliban besetzten überall in Kabul Polizeistationen und andere Behördengebäude, wie Bewohner der Deutschen Presse-Agentur berichteten. Bewaffnete Kämpfer fuhren in Militär- und Polizeiautos sowie anderen Regierungsfahrzeugen durch die Stadt. Gleichzeitig errichteten sie weitere, eigene Kontrollpunkte in manchen Straßen.
Nach der faktischen Machtübernahme durch die Taliban sollen Gespräche zwischen Politikern und Vertretern der Islamisten laufen. Das teilte ein Sprecher des ehemaligen Präsidenten Hamid Karsai der Deutschen Presse-Agentur Montag mit. In einem ersten Schritt habe man betont, dass das Leben und das Vermögen der Bevölkerung sowie die öffentliche Infrastruktur geschützt werden müssten, sagte der Sprecher weiter.
Deutschland begann wie andere westliche Staaten damit, seine Staatsbürger aus der afghanischen Hauptstadt zu fliegen. In der Nacht zu Montag landeten nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur 40 Mitarbeiter der deutschen Botschaft mit einem US-Flugzeug in Doha im Golfemirat Katar. Wenige Stunden später starteten am Morgen die ersten drei Militärmaschinen der Bundeswehr mit Fallschirmjägern an Bord Richtung Kabul. Sie sollen die Evakuierung absichern.
Große Wut auf den geflüchteten Präsidenten
Viele Afghanen zeigten in sozialen Medien offen ihre große Wut über den geflüchteten Präsidenten Aschraf Ghani. Er habe Afghanistan zerstört, durch ihn seien Tausende Kinder nun vaterlos, er habe dem Land jegliche Sicherheit genommen und dem Feind übergeben, schrieb die Sängerin Sedika Madadgar auf Facebook. Er werde als das «schmutzigste Tier» in Afghanistans Geschichte eingehen.
US-Präsident Joe Biden sah sich nach dem schnellen Vormarsch der Taliban im Kreuzfeuer führender Republikaner. Der «verpfuschte Abzug» aus Afghanistan und die «hektische Evakuierung» von Amerikanern und afghanischen Helfern sei ein «beschämendes Versagen der amerikanischen Führung». So der Minderheitsführer der Republikaner im US-Senat, Mitch McConnell. Die USA hätten die Möglichkeit gehabt, «diese Katastrophe zu vermeiden».
Auf dem Papier waren die Taliban den afghanischen Streitkräften unterlegen. Rund 300.000 Mann bei Polizei und Armee standen Schätzungen zufolge rund 60.000 schlechter ausgerüsteten Taliban-Kämpfern gegenüber. Diese profitieren aber von ihrem brutalen Ruf, den sie während ihrer Herrschaft in den 1990er-Jahren mit öffentlichen Exekutionen oder Auspeitschungen erwarben.
Mit psychologischer Kriegsführung und dem Einsatz sozialer Medien brachten sie viele Sicherheitskräfte zur Aufgabe. Andernorts einigten sich lokale Politiker, Älteste oder Stammesführer über die Köpfe der Sicherheitskräfte hinweg mit den Taliban auf eine Kapitulation.
Die Aufständischen setzten während ihrer Herrschaft 1996 bis 2001 mit drakonischen Strafen ihre Vorstellungen durch, bevor die US-Truppen in Afghanistan einmarschierten. Sie hatten dem Drahtzieher der Anschläge vom 11. September 2001, Al-Kaida-Chef Osama bin Laden, Unterschlupf im Land gewährt.