Bad Neustadt (red). Man weiß nie, wie lange Abschiedstourneen dauern können. Die Scorpions hatten ihr Ende schon beim legendären Auftritt in Schweinfurt 2011 eingeläutet, treten aber immer noch auf. Bei zwei anderen Rock-Größen könnte es dieses mal aber ernst werden. Kiss befinden sich ebenfalls auf „End-of-the-Road-Tour“ wie The Sweet, die sich zuletzt von ihren unterfränkischen Fans in Bad Neustadt im Rahmen ihrer „Final Round-Tour“ verabschiedeten.
Kiss und Sweet, Glam-Rock-Größen der 1970er Jahre, deren weitere Erfolgsgeschichte kaum unterschiedlicher hätte verlaufen können. Und auch beim Abschied könnte der Unterschied kaum größer sein. Während Kiss in Berlin, München, Dresden, Mannheim oder Köln vor zehntausenden Zuschauern auftreten, heißen die Tourorte für The Sweet Wölfersheim, Bebra oder Remchingen. Und in Augsburg, Stuttgart, Mannheim oder Nürnberg sind es eher kleinere Clubs, wo die Veranstalter froh sind mehrere hundert Fans mobilisieren zu können.
Das war vor 50 Jahren anders. Da trieben Sweet bei ihren Konzerten kreischende Teenager bis zur Ohnmacht. Sanitäter trugen vor Extase Zusammengebrochene – meist Mädchen – zu Dutzenden aus den Konzertsälen. Die Konstellation passte perfekt in eine Zeit, als es nach dem Abgang der Beatles galt, noch eins draufzusetzen. Das Songschreiber Duo Micky Chinn und Mike Chapman schüttelte einen Hit nach dem anderen aus dem Ärmel, darunter auch heute noch gängige Partyhymnen wie „Ballroom Blitz“, „Blockbuster“, Fox On The Run“ oder „Hell Raiser“. Das Outfit war schrill und das Make-Up lasziv. Rouge, Lidstriche und Schuhe mit hohen Absätzen ließen die Band nach heutigen Ansichten fast queer erscheinen. Ein charismatischer Sänger Brian Connolly in blond, ein rothaariger Bassist Steve Priest und der schwarzhaariger Gittarist Andy Scott. Dazu ein Drumstick-wirbelnder Mick Tucker am Schlagzeug.
Doch die Begeisterung hatte ihre Schattenseiten. Schon in den 1990er Jahren veröffentlichte Priest seine nach dem Ballroom-Blitz-Intro betitelte Autobiografie „Are you ready Steve..,.“. Er offenbart darin schonungslos Party-Exzesse und der Umgang mit Groupies wird in einer Weise offen gelegt, dass die aktuelle Rammstein-Diskussion kaum mehr Verwunderung auslösen sollte. In Bad Neustadt bekannte Scott freimütig: „Würde ich in der Haut eines jungen Mannes stecken, würde ich nachher noch Sex haben!“
Gerne mit dem Image kokettiert
Und The Sweet haben damals gerne mit ihrem Image kokettiert. Priest mit Whiskey-Glas in der Hand, Connolly lässig mit Zigarette oder die Band auf Motorrad-Choppern. Die Bravo als damals wichtigstes Informationsmedium hat kaum eine Ausgabe ausgelassen, ohne über die Idole der Jugend zu berichten. Eine Jugend, die sehr jung auf die Band abfuhr und die im Song Teenage Rampage explizit 13- und 14-jährige aufforderte, die Revolution der Jugend anzuzetteln. Rampage – oft auch als Amoklauf übersetzt. Damals störte sich niemand daran – Es war einfach zu skurril.
Aber es waren nicht nur hyperventilierende Kinder und Jugendliche – Auch bei gestandenen Rock-Fans kamen die stampfenden Rhythmen an, die schließlich ein Bindeglied zwischen dem Hard-Rock, etwa von Black Sabbath und Led Zeppelin, und der aufkommenden Heavy-Metal-Welle darstellten.
Doch mit der Zeit wollte die Band weg vom Image der Jugendrabauken. Vor allem Scott wollte die einstige Teenie-Band zu einer der ganz großen machen. Ihren letzten großen Hit „Love is like Oxygen“ aus 1978 schrieben sie selbst und er hatte auch durchaus das Zeug dazu. Ein feiner und fast schon sensibler Hit, der die rockige Seite der Band dennoch nicht vergaß und auch von seriösen Musikkritikern viel Anerkennung erfuhr. Doch es war der letzte große Song mit Leadsänger Brian Connolly, den die übrige Band wegen alkoholbedingter Unzuverlässigkeit 1979 aus der Band warf. Connolly starb 1997 nach mehreren Herzinfarkten mit nur 51 Jahren. Doch ohne ihn hatte das verbliebene Trio keinen Erfolg mehr. 1981 kam die endgültige Trennung. In einer Zeit von Disco, NDW, Punk und Heavy Metal saßen The Sweet plötzlich zwischen allen Stühlen – sie waren überflüssig geworden. Der mehrstimmige Chinn/Chapman-Sound – wie ihn das Songschreiber Duo u. a. auch Smokie verpasste – hatte ausgedient.
Der einstige Reichtum ist verprasst
Auf unterschieldiche Weise schienen die Band-Mitglieder ihren einstigen Reichtum verprasst zu haben, wie Dokumentationen aus den 1980er Jahren belegen und so nahmen Scott und Tucker die Sweet-Idee 1985 wieder auf, tingelten fortan aber – abgesehen von der 1989er live CD aus dem Marquee-Club – meist nur noch auf Oldie-Konzerten. Die großen Hallen füllten inzwischen andere wie Iron Maiden, Metallica oder AC/DC. Tucker hatte 1991 genug und hörte auf. Seitdem und bis heute ist Scott mit „The Sweet“ unterwegs. Priest siedelte Mitte der 1980er Jahre in die USA über und trat dort mit eigener Band als „The Sweet“ auf. Und auch Brian Connolly hatte bis zu seinem Tode einen eigenen Sweet-Ableger. Tucker starb 2002 an Leukämie und auch Priest segnete von seinem Leben schwer gezeichnet 2021 in seiner Wahlheimat Kalifornien das Zeitliche.
Die letzten Jahrzehnte hielt also Andy Scott die Sweet-Fahne hoch und er tat dies immer mit viel Enthusiasmus und einer nach wie vor recht großen Fan-Schar. Wer seine Konzerte besuchte, wurde nie enttäuscht. Drummer Bruce Bisland war seit dem Ausscheiden Tuckers die zweite feste Größe in der Formation. Den Gesangespart besetzte Scott bemüht originalgetreu, aktuell mit Paul Manzi.
Auch Kiss brachten schon lange kein bedeutendes Album mehr heraus, konnten ihren Kult-Status jedoch über die Jahrzehnte bewahren. Gene Simmons – im gleichen Jahr (1949) wie Andy Scott geboren – hatte mehrfach betont, dann aufzuhören, wenn man noch in der Lage ist eine hundertprozentige Show zu präsentieren. Und Schminke und Outfit sind bei Kiss noch pompöser als bei Sweet. Die Fans, zuletzt in München, sollen zufrieden gewesen sein. Alle großen Hits ihrer Karriere bekamen die Kiss-Fans zu hören.
Und auch in Bad Neustadt bekamen die knapp 500 Fans nochmals ein schönes Abschlussschmankerl. Alle Hits wurden gespielt – Ebenfalls mit allen bekannten Ohrwürmern. In Ohnmacht fiel jedoch niemand mehr. Groupies warteten auch keine an der Bühne. Andy Scott räumte selbst ein müde zu sein. Müde vom 55-jährigen touren rund um die Welt. Von eigenen Konzerterinnerungen aus den 1970er Jahren wussten dann auch viele Besucher zu berichten, z. B. wenn als Intro „The Stripper“ von David Rose lief, mit dem imaginären Countdown, bis bei null eine regelrechte Explosion das Konzert eröffnete. Eine Explosion, die jetzt leider verpufft ist.